Sabine Kampmann

Kunst- und Kulturwissenschaftlerin
Schreiben – Sprechen – Bilden – Vermitteln

Hier ein Auszug aus dem Katalogtext zur Arbeit von Jürgen Jansen, Jürgen Jansen – Any Colour But Red, Aust.-Kat. Galerie Obrist, Essen 2021, S. 3-11.

(…) Der Betrachter ist im Bild

Vor den großformatigen Bildern Jürgen Jansens stehend sehen wir farbige Formationen vor sehr hellen oder dunklen Hintergründen. Viele runde, kreisartige, aber auch gitter- und netzartige Formen lassen amorphe Gebilde entstehen. Sie kommen ohne Linien, Ecken oder Kanten aus, sind aber dennoch nicht formlos. Ihre abstrakte Gestalt weckt organische Assoziationen. Röhren, Schnüre, Pilzgewächse, Blüten oder Tropfen gehören in dieses Assoziationsfeld ebenso wie biochemische Prozesse wie Stockflecken auf Papier, Ausblühungen an Mauern oder korrodierendes Metall. Was wir überdies sehen – allerdings nur live vor dem Kunstwerk stehend – sind wir selbst. Denn die Oberflächen der Bilder sind überaus glatt und glänzend, so dass sich der Umraum samt Betrachter*innen in ihnen spiegelt.

Jürgen Jansens Bilder entstehen aus bis zu dreissig Schichten unterschiedlicher Harze und Ölfarben. Auf einen Bildträger aus grundiertem Holz trägt er in einem langwierigen, experimentellen Prozess Malschicht um Malschicht auf. So entstehen Bilder von enormer Tiefe, deren Schichten sich nicht mischen, sondern nur optisch überlagern. Mit einer letzten Lackschicht versiegelt der Künstler dabei stets seine Bilder und erzeugt somit einen starken Glanzeffekt. Dieser besondere Glanz wirkt anziehend und abweisend zugleich. Er bringt die Farben zum Strahlen, verdeckt unter den Spiegelungen aber auch einzelne Bildpartien. Dabei ist es oft das eigene Spiegelbild, Gesichtszüge oder Körperteile, die als optisches Phänomen mit im Bild sind.

Der Betrachter ist im Bild – diese Grundidee der Rezeptionsästhetik ist hier wortwörtlich zu verstehen.[1] Indem die letzte Harzschicht noch einmal überlagert wird von einer ephemeren und wandelbaren Bildschicht aus Spiegelungen, wird uns die eigene Position als Rezipient*innen des Kunstwerks selbstreflexiv vor Augen geführt. Die Positionierung der Betrachtenden und des Werks im Raum, Größenverhältnisse und Sehwinkel werden ebenso bewusst wie die Tatsache, dass erst im Gesehen- und Wahrgenommen-Werden das Werk endgültig erschaffen wird.

Jürgen Jansens Werke adressieren die Betrachtenden aber noch auf eine andere Weise. Unwillkürlich beginnt man sich zu fragen, welche Form wann entstanden ist, welche vorn und welche hinten liegt. Der Versuch, die Farbschichten einzeln wahrzunehmen und so den Entstehungsprozess des Bildes zu rekonstruieren, läuft jedoch ins Leere. Schaut man sich etwa das überlebensgroße Bild Door to my mind (2021) an, so sehen wir blasse, breite Streifen wie mit Pinsel, Rakel oder auch Besen horizontal in die nasse Farbe gezogen. Ihrer Spur zu folgen ist jedoch aussichtslos – mal verliert sie sich hinter, mal vor andersfarbigen Kreisformen. Milchige Farbschichten, wie weiße Nebelschwaden, wabern ohne klare räumliche Verortung durch den Bildraum. Kleine Spritzer sehr flüssiger weißer Farbe wiederum scheinen weit im Vordergrund zu liegen, aber es könnten auch Negativ-Spuren sein, also Stellen, an denen der Künstler die Farbe nachträglich entfernt hat.

Sehen macht angesichts der Bilder Jürgen Jansens nicht nur Spaß, sondern bedeutet auch Teilhabe. Denn in der Rezeption, dem betrachtenden Eintauchen in die Farbschichten, wird der kreative Schaffensprozess, die Produktion des Kunstwerks nachvollziehbar. So verraten etwa gleichmäßig- ausgefranste Ränder das Auslaufen von stark verdünnter Farbe. Auch die Tatsache, dass der Künstler seine Bilder horizontal auf dem Boden liegend bearbeitet, wird angesichts der Farbverläufe offenbar. Jansen arbeitet mit Ölfarben unterschiedlicher Viskosität und Pigmentstärke, die sich mit den verschiedenen Harzen immer wieder anders mischen. Mal wird die Farbe getropft, geschüttet oder gespritzt, mal in den flüssigen Malgrund hineingezeichnet oder weggekratzt. Die Eigendynamik des Materials sowie die Gesetze der Schwerkraft sind stets die Basis für Jansens Experimente, bei denen er den Bildträger auch dreht oder kippt und den kontrollierten Zufall zum Teil seiner Arbeitsweise werden lässt.

Die Bilder Jürgen Jansens gehen von einem „impliziten Betrachter“[2] aus, davon, dass Menschen im Wahrnehmen der Kunstwerke ganz ähnliche Erfahrungen machen können wie der Künstler während des Schaffensprozesses. Das Kunstwerk will weder belehren noch entschlüsselt werden. Es macht ein Angebot. Und auch Jürgen Jansen will ein Angebot machen: „Sich als Betrachter erleben können. Und nicht, dass man überwältigt wird,“ hat er an anderer Stelle formuliert.[3] Kunst betrachten heißt (sich) wahrnehmen – nicht mehr und nicht weniger.

Malerei als demokratische Medienkunst

Jürgen Jansens erste ästhetische Erfahrungen entstammen nicht der Kunst, sondern dem Fernsehen, wie der Künstler selbstbewusst betont und auf seine Kindheitserinnerung an die Fernsehübertragung der Mondlandung 1969 verweist. Diese mediale Prägung scheint Jansen nicht loszulassen, wenn er als Künstler schließlich beginnt, mittels Transparentpapier auf dem Bildschirm das laufende Fernsehbild abzuzeichnen. Ein Unterfangen, das zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist: Angesichts des sich ständig verändernden Bildes kommt er nicht hinterher und versucht dennoch seine Faszination festzuhalten.

Marshall McLuhan, Pionier der Medientheorie, hat das Fernsehen ein „kühles, zum Mitmachen einladendes Medium“ genannt, dass sich „für Vorgänge besser eignet als für fertig verpackte Ware.“[4] Seine zentrale, zum geflügelten Wort gewordene These, The Medium is the Message, meint, dass nicht der Inhalt, sondern die Eigenheiten des Mediums selbst die Hauptquelle seiner Wirkungen darstellt. „Weil das Fernsehen detailarm ist, ergibt sich eine starke Beteiligung des Publikums.“[5] Das Fernsehbild entsteht durch Durchlicht, es ist nicht statisch, sondern prozessual und es beschäftigt die Zuschauer*innen permanent damit, seine verwischten Konturen abzurunden und zu vervollständigen. Das Medium fesselt uns, zieht uns hinein, lässt und eintauchen oder am Bildschirm kleben – die Metaphern zur Beschreibung der immersiven Kraft des Fernsehens sind zahlreich.

Die Immersion – das Versenken, Eintauchen oder Vertiefen in einen ästhetischen Zusammenhang – ist auch das Ziel der Kunsterfahrung von Bildern Jürgen Jansens. Und in diesem Sinne ist seine Kunst eine demokratische und barrierefreie Kunst. Man benötigt keine Bildung im klassischen Sinne, muss weder mythologische Gestalten, noch kunsttheoretische Anspielungen erkennen können. Eine solide Fernseherfahrung ist vollkommen ausreichend, um Dinge zu sehen, die man so zuvor noch nie gesehen hat.

Und vielleicht stellt sich im Prozess des Betrachtens sogar die Erfahrung ein, dass sich Bild und Bildschirm ähneln. Die gewölbte so genannte ‚Mattscheibe‘ alter Röhrenfernseher war in ihrer Oberfläche alles andere als matt, sondern nahm glatt und glänzend die Fernsehzuschauer samt Wohnzimmerfenstern und Mobiliar gleich mit ins Bild. Ganz ähnlich spiegeln auch Jansens Bilder die Betrachter*innen und ihren Umraum. Überdies sind sie Spiegel in einem metaphorischen Sinne: Spiegel der künstlerischen Vision sowie Spiegel unserer Selbst und unserer medial geprägten Wahrnehmung der Welt. Jürgen Jansens Malerei ist eine Kunst nach und mit den Erfahrungen der elektronischen Medien.

Malerei als Erinnerungsfigur

Die Malerei ist weder ein Zeit- noch ein Raummedium. Dennoch wurde in der Geschichte der Malerei immer wieder versucht, sowohl das Statische des Bildes als auch seine Zweidimensionalität zu überwinden. Sei es die Erfindung der Perspektive in der Renaissance, um dreidimensionale Räumlichkeit zu erzeugen, seien es die Torsionen der Barockmalerei, die Bewegung ins Bild bringen sollten. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts schließlich experimentierten mit der Suche nach einer auch ‚Raumzeit‘ genannten vierten Dimension – eine Entwicklung, die nicht selten mit der Abstraktion einherging.

Jürgen Jansens abstrakte Kunstwerke bewegen sich wie alle Tafelbilder prinzipiell im Zweidimensionalen, bringen durch ihren besonderen Entstehungsprozess jedoch Raum und Zeit als zusätzliche Dimensionen mit ins Spiel. So stellt sich im Betrachten der zahlreichen übereinanderliegenden Farbschichten ein ungewöhnlicher Eindruck von Tiefe ein. Eine Tiefe allerdings, die durch die Investition von Zeit entstanden ist und zugleich Zeitlichkeit thematisiert. Das Trocknen jeder einzelnen Harzschicht dauert sehr lang und die tägliche Arbeitszeit mit den Materialien ist angesichts der giftigen Dämpfe auf wenige Stunden beschränkt. Das Bildergebnis zeigt fest in Harz gegossene, wie gefroren wirkende Spuren des Tropfens und Fließens der Farbe. Diese Ambivalenz zwischen Prozess und Bewegung auf der einen und Erstarrung und Fixierung auf der anderen Seite ist typisch für Jürgen Jansens Kunst. Gerade an den Kanten seiner rahmenlos präsentierten Bilder markieren die Tropfspuren den Übergang vom Bildinneren ins Außen. Der erstarrte Tropfen als ein Zeichen verflossener Zeit.

Doch die Bilder sind nur vorgebliche Zeitspeicher der vielen Schichten ihres Entstehungsprozesses. Zwar sind alle künstlerischen Arbeitsschritte im Bildkörper versiegelt präsent, doch sie lassen sich nicht einzeln abrufen. Sogar der Künstler selbst benutzt Fotografien zur Dokumentation der Zwischenzustände seiner Malereien und plant danach seine nächsten Arbeitsschritte. Keineswegs ist es also das Speichermodell der Erinnerung, das in Jansens Kunst zum Ausdruck käme. Dass ein bestimmter Gedächtnisinhalt an einem Speicherort abgelegt und wieder hervorgeholt werden könnte, scheint nicht so einfach zu funktionieren. Vielmehr zeigt sich in der Rezeption der Kunstwerke, dass die Erinnerung lückenhaft und unzuverlässig ist. Es ist eine andere Metapher der Erinnerung, die sich zur Beschreibung von Jansens Kunst aufdrängt: das Palimpsest.

Als Palimpsest wird eine mehrfach wiederverwendete und überschriebene Manuskriptseite bezeichnet, auf der sich die vielen historischen Schichten ihres Gebrauchs überlagern. Besonders im Mittelalter, als Schreibmaterial kostbar war, wurde bereits beschriebenes Pergament durch Abschaben oder Abwaschen gereinigt und erneut beschrieben. Doch oft blieben Spuren früherer Text-Schichten erhalten, so dass die Geschichte des Textträgers und seiner unterschiedlichen Schriften in Form des Ge-Schichteten hervortraten. Unter Bibeltexten konnte man etwa Schriften antiker Autoren wie Cicero oder Archimedes entdecken und mithilfe chemischer und fotografischer Verfahren bzw. Röntgenstrahlen sichtbar machen.

Zugleich fungiert der Begriff des Palimpsests auch als Metapher für das Gedächtnis und den menschlichen Geist und wird von Aleida Assmann als ein „dynamisiertes Buch“ charakterisiert.[6] Das Verlorene oder Vergessene könne beim Palimpsest allerdings nicht nach Plan wiederhergestellt werden, so Assmann, sondern komme nur ungerufen aus den tieferen Schichten des Gedächtnisses hervor. Es handelt sich also um die Vorstellung von Erinnerung als punktuell, flüchtig und unvollständig.

In einigen Arbeiten, etwa aus der Serie The Temple of Flora, hat Jürgen Jansen bereits existierende Fotografien, Illustrationen oder naturwissenschaftliche Zeichnungen übermalt. Es sind besonders Naturbilder von Flora und Fauna, die seinen Bild-Schichtungen zugrunde liegen. Als studierter Biologe interessiert er sich dabei sowohl für Naturimpressionen als auch für Bilder aus klassifizierenden Naturbüchern wie denjenigen des Naturforschers Carl von Linné. Im Ergebnis scheinen diese Bilder von Tieren oder Pflanzen jedoch nur schemenhaft aus den untersten Schichten bis hinauf an die glänzende Bildoberfläche. Sie sind ebenso flüchtig, wie die Bilder des laufenden Fernsehapparates und die aus der Vergangenheit aufscheinenden Erinnerungsbilder in unserem Gedächtnis. Es entstehen Assoziationsräume, welche durch die sehr offenen, aus der Musik stammenden Bildtitel, noch erweitert werden, anstatt einen spezifischen ‚Bildinhalt‘ einzugrenzen. Der Prozess, in dem die Rezeption der Kunstwerke Jürgen Jansens stattfindet, besteht aus Sehen, Wahrnehmen und Erinnern und das in ständiger Wiederholung: Sehen, Wahrnehmen, Erinnern, Sehen, Wahrnehmen, Erinnern – noch präsenter kann ein Kunstwerk kaum sein.


[1] Wolfgang Kemp: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, hg. v. Hans Belting u.a., 3. Aufl., Berlin 1988, S. 240-257.

[2] Ebd., S. 243.

[3] Ein ständiges freudiges Scheitern. Jürgen Jansen im Interview mit Corinna Gekeler, in: Ausst.-Kat. Jürgen Jansen. Wenn wir uns wiedersehen, Bönen 2006, S. 72.

[4] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle (Understanding Media, 1964), Düsseldorf/ Wien/ New York/ Moskau 1992, S. 355-356.

[5] Ebd., S. 364.

[6] Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. v. ders. u Dietrich Harth, Frankfurt am Main 1993, S. 19-20.